Tuesday, May 31, 2011

Low Tech bei der Krankenkasse

Neulich schaute ich bei einer Filiale meiner Krankenkasse vorbei, weil ich auf die Schnelle eine Auslandskrankenversicherung abschließen wollte. Die Filiale ist ziemlich groß, und am Anfang muss man sich erst einmal an einem zentralen Schalter melden, an dem dann vorsortiert wird, ob man überhaupt an der richtigen Adresse ist, die nötigen Unterlagen dabei hat usw. So weit so normal. Aber dann wurde es plötzlich sehr spannend (naja, die meisten Menschen würden das wohl als sehr unspannend abtun, aber für mich war es spannend): Der nette Herr am Schalter fragte nach meinem Namen und nach dem Grund für meinen Besuch. Beides schrieb er - und jetzt kommt es (Trommelwirbel) - auf eine gelbe Haftnotiz. Diese klebte er auf den Schrank hinter sich - unter eine Reihe anderer Haftnotizen. Das sah dann ungefähr so aus:

Und es wird noch besser. Als ich fragte, wie lange es in etwa dauern wird, bis ein Berater Zeit für mich hat, blickte er kurz auf seine Zettelwand und antwortete: etwa 30 Minuten. Das musste ich erst mal verdauen. Als ich dann eine Weile im Wartebereich saß und über die Zettel nachdachte, kam ein Berater mit einer gelben Haftnotiz in der Hand und fragte, wer denn Herr Roock sei. Er begrüßte mich dann mit Handschlag und begleitete mich zu seinem Arbeitsplatz. Dort hatte er bereits einen kleinen Stapel mit anderen gelben Zetteln  auf seine Schreibtischunterlage geklebt von Kunden, mit denen er vorher bereits gesprochen hatte.

Beim Rausgehen hatte ich leider wenig Zeit, um mich noch einmal genauer nach dem Zettelsystem zu erkunigen. Aber das Ganze ließ mich nicht mehr los, so dass ich aus meinem Kanada-Urlaub über Skype in der Filiale anrief und mich bis zur richtigen Ansprechpartnerin durchstellen ließ (wegen der Zeitverschiebung ein ziemlich absurdes Telefonat, weil in Deutschland der Arbeitstag gerade begann und ich um Mitternacht schon meinen zweiten Whisky intus hatte....)

Die sehr nette Dame von der Kundenbetreuung hat mir dann noch etwas mehr über das System erzählt. Ausgangspunkt war, dass es immer wieder zu Streitereien unter den Besuchern kam, weil die Reihenfolge unklar war. Zuerst wurde über ein System wie beim Arbeitsamt nachgedacht, bei dem jeder eine Nummer zieht, aber das war den Mitarbeitern zu bürokratisch! Also haben Sie sich die Low-Tech-Lösung mit den Haftnotizen ausgedacht. Und sie wissen tatsächlich ziemlich genau, wie lang die Durchlaufzeit für ein einzelnes Ticket ist, so dass sie den warteneden Besuchern eine ganz gute voraussichtliche Wartezeit mitteilen können.
Der Grund für den Besuch steht auf den Zetteln, damit der jeweilige Berater sich schon etwas auf das nächste Gespräch einstellen kann (und hat nichts mit Spezialisierung zu tun, wie ich zuerst vermutete).

Ich hatte noch befürchtet, dass die erledigten Zettel dazu dienten, irgendeine Form der Leistungsbeurteilung vorzunehmen. Dem ist aber zum Glück nicht so. Vielmehr ist das wohl etwas, zu dem sich "mein" Berater entschieden hat, weil es ihn motiviert - ein Effekt, der uns von Kanban und Scrum ja nicht ganz unbekannt ist.

Ich habe dann noch zwei Vorschläge gemacht, wie sich das System evtl. weiter verbessern ließe:
  1. Ich fände es netter, wenn jedem Besucher immer gleich seine voraussichtliche Wartezeit mitgeteilt würde - nicht nur auf eine konkrete Nachfrage hin.
  2. Ich hab (natürlich) vorgeschlagen, die Anzahl der Besucher im Gebäude zu limitieren. Tatsächlich war es bei mir so, dass die Stühle knapp wurden und sogar jemand stehen musste. Darunter leidet dann ja tatsächlich irgendwann auch die Qualität.
Über den ersten Vorschlag wollen sie jetzt mal näher nachdenken; die Limitierung können sie sich hingegen gar nicht vorstellen, weil sie (vielleicht nicht zu Unrecht) befürchten, das würde ihnen als Kunden-Unfreundlichkeit ausgelegt werden, wenn während der Besuchszeiten die Tür verschlossen ist.

Ich nehme aus dem Besuch und dem Telefonat mit:
  • Oft sind die einfachsten Lösungen die besten.
  • Der haptische Effet und die höhere Motivation beim Umgang mit physikalischen Boards sind nicht zu unterschätzen.
  • Auch wenn wir in der IT glauben, wir wüssten ziemlich gut, wie man seine Arbeit organisieren sollte, kann dies in anderen Domänen deutlich anders sein.
  • Es gibt auch außerhalb der IT clevere Leute;-)
  • Meine Krankenkasse scheint die richtige Wahl für mich zu sein.